Fwd: [rohrpost] Bücher mit serienmäßiger GPS

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Fwd: [rohrpost] Bücher mit serienmäßiger GPS

Markus Gälli-3
Ein etwas anderes Dynabook...

Anfang der weitergeleiteten E-Mail:

> Von: Tilman Baumgaertel <[hidden email]>
> Datum: Mi, 07. Aug. 2002  11:09:22 Europe/Berlin
> An: [hidden email]
> Betreff: [rohrpost] Bücher mit serienmäßiger GPS
>
> http://sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel793.php
>  Mittwoch, 7.8.2002
> Auf dem Bildschirm wird alles zu konkreter Poesie
>
> Mit 360 Grad Kurvenlage sicher durch jeden Text: Endlich gibt es auch
> für
> Bücher-Piloten serienmäßig GPS
>
>
>
> Das Neueste aus der literarischen Galaxie: Es gibt jetzt ein
> Navigationssystem, um sie zu bereisen. Und es kostet keinen Aufpreis,
> sich
> dieses GPS ins Lektüre-Cockpit einbauen zu lassen: Unter der
> Internet-Adresse www.TextArc.org stellt der New Yorker
> Software-Entwickler
> W. Bradford Paley ein Programm bereit, das mehr als 2000 englische Texte
> aus der Online- Bibliothek „Project Gutenberg“ einspeisen und grafisch
> darstellen kann. Selbst lange Romane wie Bram Stokers „Dracula“ bildet
> es
> gleich zwei Mal auf dem Monitor ab, und zwar so: Im äußeren Oval stehen
> wie
> im Uhrzeigersinn fein schraffiert alle Zeilen des Romans. Die
> Schriftgröße
> beträgt nur einen Pixel, wird jedoch lesbar, wenn man mit dem Mauspfeil
> darüber fährt. Das Layout des Buches bleibt intakt, so dass man bei
> Lewis
> Carrolls „Alice’s Adventures In Wonderland“ auf der Zwei-Uhr-Position
> immer
> noch das berühmte Gedicht in Form eines Mäuseschwanzes erkennt.
>
> Im Innenraum des Ovals stehen einzelne Wörter, je häufiger im Werk
> enthalten, desto heller leuchten sie. Das Programm modernisiert und
> popularisiert das literaturwissenschaftliche Instrument Konkordanz,
> weil es
> die Wörter nicht nur zählt, sondern sie zugleich blitzschnell an ihrem
> Ort
> im großen Ganzen greifbar macht. Denn berührt man ein Wort mit dem
> Mauspfeil, schießt von dort aus ein Strahlenkranz zu all jenen Zeilen im
> äußeren Oval, in denen es enthalten ist. Platziert sind die Wörter nach
> ihrem mittleren Erscheinungsort, bei Edgar Allan Poes „Fall Of The
> House Of
> Usher“ steht „sound“ weit links. Auch wenn man die Erzählung nicht
> kennt,
> sieht man also sofort, dass sich diese große Paranoia-Geschichte, die
> mit
> visuellen Begriffen wie „impression“, „imagination“ und „scene“ rechts
> oben
> beginnt, Geräuscheffekten erst im hinteren Teil bedient. Eine Anhäufung
> von
> „nervous“ deutet jedoch schon früh auf die spätere Zerrüttung hin, wenn
> von
> der zuvor oft erwähnten, Geborgenheit verheißenden „family“ längst keine
> Rede mehr sein wird. Paley zufolge soll sich der unbekannte Text
> intuitiv
> auf einen Blick erschließen. So öffnet „TextArc“ einen neuen,
> synoptischen
> Zugang auf epische Kunst und verwandelt jedes Buch in konkrete Poesie.
>
> Denn durch die Darstellungsweise entstehen individuelle digitale
> Kunstwerke. Es sind Gebilde, die aussehen wie ferne, spiralige
> Weltraumnebel. Klickt man bei „Alice“ zugleich die Protagonistin und das
> „rabbit“ an, sieht man an deren Strahlenkronen, dass sich die Begriffe
> umkreisen und den Roman erhellen wie ein Doppelsternsystem. Paley sagt,
> er
> wolle mit dem Programm die Mise en scène eines Werkes verdeutlichen.
> „TextArc ermöglicht es, den Text auf nicht lineare Weise zu lesen“, sagt
> Bruce Ferguson von der Columbia University School of Arts: „Es macht den
> Text reicher und interpretierbarer.“ Aber keinesfalls solle sein
> Programm
> den Originaltext ersetzen, so Paley, er wolle lediglich ein Instrument
> liefern, eine „gestalt overview“, die einen in den Text hinein ziehe.
> Und
> aus dem Werk sei nun eben ein Spielzeug geworden.
>
> Dabei besteht kein Grund zur Sorge, die konventionelle Textform gerate
> durch TextArc in Vergessenheit. Nein, ein Roman wird mit diesem Programm
> noch attraktiver, seine beiden Gestalten treten miteinander in
> Beziehung,
> denn der Originaltext kann zusätzlich aufgerufen werden. Mit all den
> geöffneten Fenstern auf dem (möglichst großen!) Bildschirm fühlt man
> sich
> dann wie ein Weltraumpilot auf Erkundungsreise durch eine Galaxie aus
> Sprache.
>
> Ja, wenn man das Programm Romane lesen lässt, dann wird es erst richtig
> aufregend: Kürzlich gelesene Wörter treten im inneren Oval grell hervor
> und
> verblassen mit der Zeit – wie Kursbojen, wie Begriffe im Kopf. Hier und
> da
> brechen gelbe Sandwürmer aus einem Wüstenplaneten, dort kommt es zu
> Eruptionen auf Sonnenoberflächen. Bei diesem schleifenwerfenden gelben
> Band
> handelt es sich um die „story line“, die die Verkettung der Wörter beim
> Lesen anzeigt – so, als sei der Originaltextfaden durch das
> TextArc-Strickmuster gezogen worden. Zusätzlich explodieren die
> zentralen
> Begriffe in pinkfarbene Gespinste, die ihre Assoziationen zu anderen
> Wörtern markieren. Der Bewusstseinsstrom wird Rezeptionsästhetik:
> Begriffe
> werden im Geist aktiviert, klingen ab, aber nicht ohne andere Begriffe
> zu
> stimulieren.
>
> Nun kann man sich einbilden, und das wird der faszinierte Textgalaxien-
> Pilot stets tun, dass der Charakter des „Story Line“-Knäuels, also die
> digitale Handschrift eines Autors, Auskunft über sein Werk gibt. Bei
> Poes
> atmosphärisch sehr dichtem „Fall Of The House of Usher“ bleiben die
> Krakel
> kompakt, winden sich schnörkelig durchs Oval, um schließlich bei 12 Uhr
> anzukommen; Carrolls anarchische „Alice“ schlägt von Beginn an heftig
> aus
> und dringt in fast alle Bereiche des Ovals vor: Jedes Wort ist hier
> möglich, jederzeit. Der Tacho im Lektüre-Cockpit zeigt 360 Grad.
>
> CHRISTIAN
>
> KORTMANN
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